Montag 24.8.2015
Mit dem Jedermann-Radrennen Cyclassics 2015 wollte ich nach all dem Grusel der letzten Zeit wissen, wo ich stehe. Und, ja, nun weiß ich es: Mitten im Leben!
Mein Seuchenjahr ist damit offiziell für beendet erklärt!
Davor stand am gestrigen Sonntag ein Tag wie ein Traum. Und wenn Fahrrad-Fahren eine Leidenschaft von mir ist, dann kann ich damit für mich selber Großes bewegen.
Wie immer bei dem Ereignis eines Jedermann-Radrennens sammelt man eine Masse an intensiven Eindrücken und Erlebnissen. Und in einer besonderen Lebenssituation, wie ich sie ja in letzter Zeit miterlebte, wird dies alles noch um einen großen Zacken intensiver.
Vielleicht haben Sie ja meine Vorschau zu diesem Ereignis gelesen? Darin hatte ich einen ziemlich präzisen “Schlachtplan” wiedergegeben, wie ich die Cyclassics fahren will. Und das klappte auch weitgehend ganz gut, wenn auch nicht so 100prozentig. An fünf der in dem Vorschau-Artikel erwähnten Punkten möchte ich dies mal schildern:
* Der Start
Um nicht in allzu enge Fahrergruppen zu geraten wollte ich als letzter, als allerallerletzter der rund 20.000 Jedermann-Fahrer starten. Nun, das klappte nicht ganz. Freundlich mit einem
anderem Fahrer plaudernd fuhr ich als… Vorletzter durch den Startbogen. Es gab allerdings noch einen weit zurückhängenden, sicher über 100 Metern hinter uns rollenden, einsamen Fahrer – und auf den zu warten war mir dann doch zu blöde. Insgesamt war es ein sehr lustiges, besonderes Erleben des Rennens, so ganz von hinten: Man wartet auf den Start, plaudert freundlich ein wenig mit den Ordnern, die alles nach hinten absichern – ist Kilometer weit und rund 10.000 Fahrradfahrer vom eigentlichen Startbogen entfernt und weiß überhaupt nicht, was da vorne passiert. Aber man ist umgeben von Fahrerinnen und Fahrern, die auch alles locker und entspannt nehmen. Fast gab es, als das Feld dann gegen 9:35 Uhr langsam losrollt, eine Art “Gedrängel nach hinten”.
Mit einem lockeren Grüppchen von etwa 15-20 Leuten rollte man in knapper Oma-Geschwindigkeit gen Start. Erst als ein Ordner uns genervt und entschieden dazu aufforderte, sich doch mal ein wenig zu beeilen, ging’s ein wenig schneller voran. Am Startbogen selber, wo die Zeitnahme dann startet, waren die nächsten Fahrer vor uns Trödlern schon bestimmt 200 Meter entfernt. Und eben auch das ist Radrennen à la Cyclassics, eben auch dafür ist Raum bei einem Jedermann-Rennen. Und genau so hat’s mir richtig Spaß gemacht und ich merkte mein Grinsen. Pech jedoch: Abgelenkt durch die Plaudereien habe ich mich bei meinen technischen Geräten total vertan. Mein GPS-gesteuertes Gerät stoppe ich am Startbogen versehentlich, anstatt es zu starten (und bemerke dies erst nach einer Viertelstunde…). Und mein gewöhnliches Tacho vergesse ich, auf null zu stellen. Das heißt: Ich fahre ohne besondere Orientierung über meine Durchschnittsgeschwindigkeit durch die Gegend. Auch egal!
* 100 Handküsse für die Zuschauer
Nein, das hat so leider nicht geklappt! Aber: Um die 50 Handküsse mögen es wohl doch gewesen sein. Aber oft genug erlaubte die Fahrsituation es nicht wirklich, solche Faxen zu machen – vor allen Dingen, wenn ich recht eng an anderen Fahrern “klebte”.
Zudem wurde ich mit der Zeit auch etwas wählerischer mit meinen Handküssen: Nur, wenn ich das Gefühl hatte, dass auch ICH als zumeist breit grinsend fahrender Fahrer wahrgenommen werde, gab es einen Handkuss für die engagierten Zuschauer. Und, bitteschön: Es sollte doch zumindest eine Dame bei den anfeuernden dabei sein 🙂 Reine Frauen-Anfeuerungsgruppen hatten allerdings große Chancen, einen Handkuss von mir zu bekommen. Und die Reaktionen (die dann wegen meiner Geschwindigkeit ja meist erst in meinem Rücken stattfanden) waren fast immer hörbar: Verblüfft, angespornt, begeistert, belustigt. Die Handküsse aus Liebe zum Leben und zum Rennen: Ein ganz, ganz großer Spaß!
* Schmerzen
Ja, die Schmerzen – sie kamen! Natürlich!
Und zugegeben: Ein wenig mehr, als ich erwartet hatte. Rücken, Hintern, Hände, Beine – in dieser Reihenfolge traten Schmerzen auf, nicht richtig schlimm, aber doch. Und verschwanden auch wieder – und kamen mal wieder. Nicht lustig, aber ertragbar. Auch das bin eben ICH, HIER, JETZT, auch das ist echt! Und das gehört auch irgendwie dazu. Wenn ich 100 km flott auf dem Rennrad fahre, dann habe ich eben irgendwann ein taubes Gefühl in den Händen, muss zwischendurch den Rücken durchdrücken. Und die letzten rund zehn Kilometer waren die Beine ausgepowert und taten weh, und dann heißt es eben: durchhalten, durchbeißen, auf’s Ziel freuen. Der Schmerz wird dann schnell gehen und der Stolz kommen. Und so war es dann auch.
* Jesteburg
Hier muss ich mal ein wenig ausholen und auch auf die konkrete Situation um mich herum in dem Rennen eingehen. In diesem Jahr gab es im Süden von Hamburg eine etwas veränderte Streckenführung. Auch in den früheren Jahren ging es durch den schönen Heide-Ort Jesteburg. Bei der früheren Streckenführung ging es allerdings von Süden nach Norden der Länge nach komplett durch den Ort durch. Bei der jetzigen Streckenführung ging es nach rund 51 Kilometern eher von Westen nach Osten durch Jesteburg – ein viel kürzeres Stück durch Jesteburg, als sonst. Vor einer gefährlichen Rechtskurve wurde im Vorfeld gewarnt. Und ebenso vor dem Kreisverkehr, der auch früher schon auf der Strecke lag, und den ich immer als recht gefährlich einschätze, da viele Fahrer ihn leicht unterschätzen.
Im Laufe der Fahrt stellt sich heraus, dass ich nicht nur gut drauf bin, sondern auch ein wenig schneller unterwegs, als so einige andere. Es “spült” mich mit der Zeit förmlich nach vorne. Immer wieder gerate ich in Gruppen hinein – was mir nicht so recht behagt. Diese Gruppen funktionieren oft nicht gut und sind eher ein chaotisches “Knäuel” an Fahrern. Ganz offenkundig sind recht viele Leute nicht geübt im “Gruppenfahren” und sind etwas unbeholfen, zeigen Richtungsänderungen nicht an, schlängeln hin und her und fahren auch mal quer durch eine Gruppe, ohne sehr auf Mitfahrer zu achten. Das ist bei einem Tempo von 30-35 km/h nicht ungefährlich und ich meide so etwas eher. Das ganze Fahrerfeld hat sich andererseits mittlerweile mehr und mehr auseinander gezogen.
Aber: Kurz bevor es nach Jesteburg geht, hänge ich direkt hinten an so einem Knäuel dran. Als ich das Ortsschild Jesteburg sehe, schalte ich blitzschnell: Nein, in diesem Knäuel will ich nicht durch die beiden Gefahrenpunkte! Kurz entschlossen trete ich etwas kräftiger in die Pedalen, lege einen kleinen “Sprint” ein. Vor unserem Knäuel ist auf mindestens 200 m Entfernung kein anderer Fahrer zu sehen. In Windeseile bin ich 50 bis 100 Meter vor meinem letzten Knäuel, niemand ist mitgekommen und ich fahre mit ziemlichen Abstand ganz allein – und das ist mir auch ganz recht so!
Es geht sicher um die Rechtskurve – und es trifft mich förmlich der Schlag: Plötzlich scheint der ganze Ort am Straßenrand zu stehen. Einige Hundert Zuschaue haben sich an dem kurzen, kompakten Stück durch den Ort gesammelt. Früher haben die sich sicherlich im ganze Ort verteilt, aber jetzt trifft man sich hier kompakt. Eigentlich stehen sie hier zu hunderten Spalier, vielleicht 300, vielleicht 500 Menschen – und ich komme hier völlig alleine mit etwa 35 km/h durch. Und, ja, auch für mich ganz alleine schwillt die Anfeuerung an, es wird getrötet, gerasselt, geklatscht, gerufen, gegrölt. Sofort bin ich gepackt von einer Gefühlsmischung aus Verblüffung, Begeisterung, Stolz, Freude und – Rührung. Ein Handkuss nach links, ein Handkuss nach rechts, ein wenig winken, meiner Begeisterung möglichst freien Lauf lassen.
Aber dann muss ich mich, immer noch mitten in dem ziemlich dichten Spalier aus Menschen, plötzlich ganz auf mich selber konzentrieren. Nicht nur, dass ich hier mit Ganzkörper-Gänsehaut durchfahre – es schießen mir völlig unerwartet auch Gedanken über meine gerade vor wenigen Monaten überstandene Krebserkrankung durch den Kopf, über die doch harte Zeit, und darüber, wie phantastisch diese Situation hier und jetzt ist – und es schießen mir sofort Tränen in die Augen. Aber irgendwo da vorne kommt ja der blöde Kreisverkehr. Also Konzentration jetzt, verdammt!
In früheren Jahren wäre mir diese Situation mir wohl ein wenig peinlich gewesen – schließlich fahre ich hier doch nur ein wenig Fahrrad. Aber in diesem Jahr ist es anders, schon auf den letzten 50 km habe ich begriffen, dass ich in diesem Jahr nicht nur ein Rennradfahrer bin, sondern eigentlich sowieso ein Sieger. Sieger gegen meinen Krebs. Und als Sieger durfte ich mich auch so bejubeln lassen, wie jetzt hier in Jesteburg.
Hunderte Jesteburger und ich – ein toller Moment für mich! Am liebsten hätte ich diesen Moment irgendwie festgehalten, aber es ist eben alles flüchtig in diesem Leben. Trotzdem werde ich diesen Moment nicht so schnell vergessen. Danke, Ihr großartigen Jesteburger!
* Zieleinfahrt
Irgendwann gegen Mitte des Rennens wurde mir schon klar: Ich werde es schaffen ins Ziel. Eigentlich gab es gar keinen richtigen Zweifel: Ich bin schnell genug und ganz offenkundig auch mindestens genauso fit, wie viele andere Fahrer um mich herum. Ja, etwas quälen und durchbeissen musste ich mich dann doch. Und auch etwas ärgern über teilweise total unachtsame Fahrer. Aber dann geht es in die Innenstadt. Wieder gehen mir viele, viele Gedanken durch den Sinn. Was sich am Straßenrand tut, nehme ich kaum noch wahr, konzentriere mich auf die Strecke und auf mich und auf die Sicherheit.
Das ändert sich erst auf Höhe des Rathauses, auf den letzten gut 500 Metern der Strecke. Dort hat die Anfeuerung und der Beifall der Zuschauer eine solche Wucht, dass man es nicht mehr ausblenden kann. Fast trägt es einen. Ein kleines Stückchen vor mir fällt mir eine Fahrerin auf, die nicht in Radrennfahrer-Outfit unterwegs ist, sondern in einem T-Shirt mit einem flotten Spruch darauf. Eher ungewöhnlich. Ich fahre neben sie, grinse sie an, sage, dass jetzt ja der genußvolle Teil des Rennens käme. Ihre Reaktion ist so sympathisch, dass ich augenblicklich bedaure, sie nicht schon fünf Kilometer vorher eingeholt zu haben.
Eher gemächlich rollen wir nebeneinander ins Ziel, in dem Lärm drumherum ist keine weitere Kommunikation mehr möglich – außer einem kurzem Lächeln. Irgendein Dödel, der meint, 20 Meter nach dem Ziel völlig idiotisch die einzig wirklich richtig gefährliche Situation um mich herum erzeugen zu müssen, sorgt dafür, dass wir uns nicht mal gratulieren und verabschieden können. Und in dem allgemeinen Gewusel im Versorgungsbereich verliert man sich eh sofort aus den Augen. Gleichzeitig hat dieser Dödel dafür gesorgt, dass meine Glücksgefühle nicht frei fließen können, sondern kurzzeitig erstmal wieder Platz für Stresshormone machen müssen.
Auch das sind dann eben die Cyclassics.
Noch lange treibe ich mich hier herum, schaue mir die vorbeirasenden Profis an, bin mit mir und der Welt rundum zufrieden und glücklich.
Die Zahlen zu dem Rennen sind mir gar nicht so wichtig, aber wen es interessiert: Die 106 km lange Strecke habe ich der offiziellen Zeitmessung (eine eigene habe ich ja nicht…) zufolge in 3 Stunden 23 Minuten und 2 Sekunden gefahren. Das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 31,33 km/h. Das finde ich völlig okay! Platz 5970 unter 7987 ins Ziel gekommenen Männern.
Ach, bei der Gelegenheit schiebe ich doch noch ein paar allgemeine Zahlen ein, die mich immer wieder beeindrucken und die zeigen, was für eine “bewegende” Veranstaltung die Cyclassics sind: Laut den vorläufigen Ergebnislisten erreichten 16983 Fahrerinnen und Fahrern der verschiedenen Jedermannrennen das Ziel. Wie viele Fahrer nicht ins Ziel gekommen sind, wird öffentlich nicht bekannt gegeben. Beeindruckend: Alle Finisher gemeinsam legten an diesem Sonntag-Vormittag eine Strecke von 1,62 Millionen (!!) Kilometer zurück! Das wären rund 40 Erdumrundungen. Oder auch zweimal zum Mond – und zurück. Geradelt an einem Vormittag rund um Hamburg – starke Beine, starke Menschen!
So, das dazu…
Auch, wenn in zwei Wochen die nächste Runde der Kontrolluntersuchungen für meinen Knochenmarkkrebs, mein Plasmozytom, anstehen: Ich fürchte mich nicht! Und sollten sich noch ein paar dämliche Krebszellen in meinem Körper finden, diese haben – wie ich gerade wieder gemerkt habe – einen ganz schön starken Gegner: Mich!
Mein Seuchenjahr – ich erkläre es für beendet! Und es gibt hier nichts mehr zu berichten – bis auf Weiteres.