Donnerstag, 4.12.2014
Und wieder ein kurzer, knapper Arbeitstag.
Kaum im Büro angekommen, ausnahmsweise mal mit Öffentlichen Verkehrsmitteln, klingelt mein Telefon.
Es meldet sich die Röntgen-Abteilung des UKE: Ja, hallo, ich sei doch gestern für das CT dort gewesen. Es sollte dabei ja mein gesamter Oberkörper aufgenommen werden. Leider sei da eine Panne passiert – man habe vergessen, meinen Hals zu röntgen. Ob ich in Kürze nochmal wiederkommen könne, um das nachzuholen?
Es ist durchs Telefon greifbar, wie unangenehm der freundlichen Frau dieser Anruf ist. Mir schießt sofort durch den Kopf, oh nein! Noch einmal ins UKE fahren, warten, warten, warten, Arztbesprechung, Braunüle setzen, warten, warten, auf die Liege, hin- und herfahren durch das Röntgengerät, Kontrastmittel, Hitzewallung, summ-summ-Strahlung, noch einmal auf die CD warten, warten, fertig. Begeistert bin ich gar nicht, stöhne hörbar ein wenig auf.
Aber ich fange mich schnell: “Na, da bleibt mir ja wohl nichts anderes übrig!” Heute könne ich aber nicht, da ich gleich eine ausgiebige, wichtige Besprechung habe und ab dem frühen Nachmittag die Weihnachtsfeier meiner Abteilung ansteht. Tut mir Leid!
Aber ich biete der Dame sofort an, meine nach der Kieferhöhlen-Operation Anfang November zum fixen Termin gewordene Kontrolluntersuchung am Freitag-früh um 8 Uhr in der Mund-Kiefer-Gesichts-Chirurgie (MKG) nutzen zu können, um zum Röntgen zu kommen. Allerdings sei es dann für mich schwierig, einen festen Zeitpunkt zu planen, da ich bei der MKG auch schon mal eine Stunde oder länger im Warteraum sitze.
Die Dame am Telefon findet das einen guten Vorschlag und lässt sich souverän darauf ein, dass ich “dann halt komme, wenn ich bei der MKG durch bin”. Sie würde dafür sorgen, dass ich schnell dran komme und nicht wieder eine so lange Wartezeit durchstehen müsse, wie tags zuvor. Fast übertrieben freundlich bedankt sie sich für mein Verständnis und meine Kooperation.
Etwas verblüfft sitze ich nach dem Telefonat da – Sachen gibt’s! Den Hals beim Röntgen vergessen…
Der Arbeitstag läuft intensiv, nur auf der (gefühlt ewig langen) IT-Besprechung merke ich, dass ich ungeduldiger als früher auf ausschweifende, komplizierte Reden reagiere. Eine Erkenntnis der letzten Zeit: Verdammt, das Leben ist viel zu kurz für ausschweifendes Gelaber!
Zum Ende der Besprechung gibt es wieder ein kleines Ereignis, das mir zu Herzen geht. Der gesamte Rahmen ist nicht derjenige, in dem ich die Aussicht auf längere Krankheit ankündigen müsste, aber der Leiterin “meiner” EDV-Gruppe kündige ich nach der Besprechung noch kurz an, dass ich wohl längere Zeit fehlen werde, da ich an Krebs erkrankt sei.
Ihre Reaktion verblüfft mich ebenso, wie sie mich anrührt: Fast augenblicklich bekommt sie feuchte Augen und nimmt mich kurz in den Arm – was in meinem Arbeitsumfeld absolut außergewöhnlich ist. Aber sie weiß auch, was dies bedeutet: Vor nicht allzu langer Zeit hat sie eine direkte, jüngere Kollegin an die tückische Krankheit verloren.
Mittags steht noch ein für mich wichtiger Termin an: Es beschäftigte mich die ganze Zeit, was meine Kollegin vor einer knappen Woche am Mittagstisch zu mir gesagt hatte. Sie interessierte sich für meinen Gesundheitszustand nach der Operation an Zahn und Kieferhöhle. Und merkte dabei an, dass ihr Zahnarzt bereits vor fünf Jahren festgestellt habe, dass auch bei ihr eine Kieferhöhle “vollverschattet” sei. Die gleiche Erscheinung, die bei mir umgehend zu der Operation und damit zu der Erkenntnis geführt hatte, dass ich dort einen bösartigen Tumor habe.
Als sie mir von ihrer verschatteten Kieferhöhle erzählte, hatte ich gerade zwei Stunden zuvor erfahren, dass ich eben dort Krebs habe. Das jedoch konnte ich ihr zu dem Zeitpunkt noch gar nicht erzählen, ich war einfach noch völlig durcheinander. Das ist jetzt anders, jetzt bin ich besser sortiert. Und ich fühle mich geradezu verpflichtet, ihr davon zu erzählen, dass es bei mir etwas Böses ist.
Sie schaut mich schon irritiert an, als ich in ihr Büro komme und sie frage, ob ich sie irgendwo einen Moment in Ruhe sprechen könne. In einem Labor erzähle ich ihr dann die tatsächliche Entwicklung bei meiner Kieferhöhle: Eine seltene Krebsform hat sich eingeschlichen, ein Lymphom. Sie wird ganz bleich bei meinen Ausführungen, kein Wunder. Meine Kieferhöhle wurde operiert zwei Wochen, nachdem der Schatten entdeckt wurde – ihr Schatten in der Kieferhöhle ist seit fünf Jahren bekannt. Ein wenig versuche ich, sie zu beruhigen: Es sei wirklich eine seltene Geschichte, die ich da hätte. Keinesfalls müsse es bei ihr so oder ähnlich sein. Aber sie solle es doch bitte mal untersuchen lassen und das nicht so vor sich herschieben.
Eine ganze Weile reden wir noch miteinander, dann gehen wir zurück an unsere Arbeitsplätze. Ob sie noch etwas zustande bringt? Viel steht heute allerdings eh nicht mehr an, später ist noch die Weihnachtsfeier unsere Abteilung. Aber zunächst bin ich sehr erleichtert. Ich war es ihr schuldig, sie mit der Nase darauf zu stoßen, was sein KANN. Und auch mir selber war ich es schuldig, mich von den Gedanken zu befreien, dass es wichtig ist, andere unmittelbar gefährdete Personen vor den durchaus gefährlichen Möglichkeiten der Erkrankung zu warnen.
Als Weihnachtsfeier dann in ein Schokoladen-Museum zu gehen, war eine gute Idee. Schokolade ist toll und hilft – mir jedenfalls ein wenig!
Auf dem Weihnachtsmarkt und beim anschließenden Essen bemerke ich, dass sich die Nachricht meiner Erkrankung mittlerweile auch zu den Kollegen herumgesprochen hat, die nicht direkt in meinem Umfeld arbeiten. Das finde ich völlig okay – ich will ja offen mit der Erkrankung umgehen.
EINE WOCHE KREBS – ERSTE ERKENNTNISSE
Abends gehen mir noch einige Dinge durch den Kopf: Seit fast einer Woche weiß ich nun dass ich Krebs habe, einen bösartigen Tumor, ein Lymphom. Im Kopf – zumindest. Ein Feind in meinem Körper!
Nachdem ich dies auf eine unbefriedigende Weise erfuhr, dauerte es ein paar Stunden, bis der Schock mich mit voller Wucht erreichte und in Angst und Selbstmitleid mündete. “Funktionieren” konnte ich in meinem üblichen Umfeld noch ganz gut – aber außerhalb davon war längere Zeit förmlich starr vor Schock. Nachts schlaflos.
Was mir geholfen hat, war – reden. Und Information, was mir denn bevorstehen KANN! Nach etwa zwei Tagen ließ dieser erste Schock langsam nach, ich konnte wieder schlafen.
Das latente Gefühl von Angst bleibt, nicht vorherrschend – aber es ist da. Dinge, die man wirklich nicht gerne denkt, gehen mir durch den Kopf: Was wird passieren in den nächsten Monaten und vielleicht ja auch Jahren? Werde ich Schmerzen erleiden? Werde ich noch fähig sein, geliebte Dinge zu tun? Freunde treffen, Fahrrad zu fahren, reisen, ins Fußball-Stadion gehen? Oder werde ich abbauen und bald schon sterben? Was will ich noch machen vor dem Tod?
Dinge, die zum Teil noch niemand beantworten kann. Und Dinge, die man für sich selber ganz allein beantworten sollte.
Aber diese verzagten Gedanken sind nicht alles! Irgendwann dann, als ich von der Arbeit kommend gegen den strammen Westwind an der Elbe entlang nach Hause radelte, hatte ich plötzlich ein ganz klares Bild vor Augen. “Er” und ich – wir sind eins und stehen uns doch gegenüber. Er ist gnadenlos und unbarmherzig, er ist der Feind in meinem Körper. Und ich werde ihn bekämpfen, mit allem, was ich geben kann. Ich bin in guter Konstitution, ich bin stark und ich werde starke Mitstreiter haben – und er ist allein. Aber heimtückisch.
Und doch: Alles von “ihm” muss raus aus mir! “Er” muss weg!
Vielleicht allerdings werde ich auch verlieren, das ist nicht auszuschließen! Und ich sollte mich drauf einstellen, irgendwie. Der Krebs jedoch – er wird in jedem Fall verlieren: Sollte er mein Leben zerstören, so wird er auch seine eigene Existenzgrundlage entziehen und wird auch verrecken. Oder aber er wird zuvor durch Mittel vernichtet. Er ist dazu verdammt, zu verlieren. So oder so.
Aber auch diese Gedanken sind längst nicht alles. Seit einer Woche hat sich in meinem Leben vieles auf den Kopf gestellt und Prioritäten verschoben, der übliche Alltag ist völlig zerschlagen. Ich spüre eine enorme Intensität in meinem derzeitigen Leben. Ich habe großartige Gespräche, fühle Zuneigung, wo ich sie zuweilen gar nicht vermutet hatte, spüre Nähe zu Menschen, wo sie ein wenig eingeschlummert war oder ich sie gar nicht vermutete.
Kurzum: Ich spüre neues, aktives Leben in mir, bin hellwach und extrem kommunikativ.
Dies mag unter den Umständen etwas absurd klingen. Aber, es ist einfach so: Körperlich geht es mir gut, ich habe keinerlei Beschwerden, die mit meiner Erkrankung zusammen hängen. Und diese Zeit sollte ich genießen.
Die ersten zwei, drei Tage raste ein weitgehend unkontrollierbarer Wirbelsturm durch meine Gedanken – seitdem denke ich klar und gezielt, wie selten.
Aber bei all dem bleibt immer das Wissen und die Angst: Werde ich leiden? Werde ich unter dem Krebs leiden – oder werde ich gar mehr unter den Nebenfolgen der Behandlung leiden?
Die Zukunft wird es zeigen – wohl schon recht bald…